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Advent 2
Raum für Liebe schaffen
Vietnam, 15. Jahrhundert, eine wahre Geschichte über Liebe, die ihren Raum nicht fand. Aus Thich Nhat Hanh, Jeden Augenblick genießen (2004). Hier in Kurzfassung:
Ein junger Mann wurde gezwungen, seine junge Frau zu verlassen. Sie liebten sich sehr, und als er zurückkehrte fielen sie sich innig in die Arme, alle drei, denn ihr Sohn war nun drei Jahre alt. Die Frau ging zum Markt, um für das Festmal einzukaufen, während der Mann erstmals mit seinem Sohn spielte, der plötzlich zum Vater sagte:
“Herr, Sie sind nicht mein Vater. Mein Vater ist derjenige, der jeden Abend zu uns nach Hause kommt. Wenn meine Mutter sich an den Tisch setzt, setzt er sich auch, und wenn meine Mutter sich schlafen legt, legt er sich auch schlafen”.
Als der junge Mann das hörte, verschwand all seine Freude, all sein Glück. Er litt so sehr, dass er zu Eis erstarrte, seine Frau nicht mehr ansah und auf ihre Fragen nicht antworten konnte. Er betrank sich drei Nächte lang. Als er zu sich kam, hatte seine Frau sich aus Verzweiflung das Leben genommen. Stumm kümmerte er sich ab da um seinen Sohn, als eines Abends das Kind zu ihm sagte:
“Herr, sehen Sie, da ist mein Vater”, und er deutete auf den Schatten an der Wand. Der Junge sagte: “Das ist mein Vater, er kam jeden Abend. Wenn meine Mutter sich setzte, setzte er sich auch hin, wenn meine Mutter schlafen ging, ging er auch schlafen. Genau wie ich es Ihnen erzählt habe.”
Denn seine Mutter hatte wegen der Abwesenheit ihres Mannes so sehr gelitten, und als das Kind eines Abends nach seinem Vater fragte, hatte sie, indem sie auf ihren eigenen Schatten deutete, geantwortet: “Schau, das ist dein Vater. Sag Guten Tag zu ihm!” Sie sprach viel mit ihrem Schatten, um sich nicht so alleine zu fühlen. Immer wenn sie sich niederlegte, verschwand dann der Schatten in Ihrer Bettstatt.
Da verstand der junge Mann, dass er das Opfer seiner falschen Wahrnehmung geworden war: drei Tage und drei Nächte hatte er auf der Grundlage seiner falschen Wahrnehmung gehandelt und großes Leid erschaffen. In Vietnam kennen viele Menschen diese Geschichte.
(nach: Thich Nhat Hanh, 59-62)
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Praxis-Anregung
Spürst du die Liebe dieser Beiden zueinander? Fühlst du auch die Enge, in welche die beiden sich begeben haben?
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Und wie fühlt sich das an:
“Liebling, ich leide, bitte hilf mir”
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Dieses Mantra bietet uns der Zen-Meister und Achtsamkeitslehrer Thich Nhat Hanh an, um der Enge einer solchen Geschichte zu entrinnen.
Versetze dich einen Moment in die beiden Liebenden und stelle dir vor zu sagen: “Liebling, ich leide, bitte hilf mir”.
Wird da nicht der Spalt zu mehr Raum spürbar?
… zu einem Raum, in dem Platz ist für das, was für die beiden wahr ist: für ihre Liebe, ihre jahrelange Liebe?
… zu einem Raum, in dem jedenfalls für mehr Platz ist, als für deren Trauer, deren Leid, deren Erstarrung?
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“Ersuche um das Ausdehnen der Liebe.
Meditiere nur auf DAS”
Rumi (The Basket of Fresh Bread, ed. Colmean Barks)
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